Russland auf der Suche nach Freiheit verlassen
Eine der Folgen von Russlands Krieg gegen die Ukraine, der am 24. Februar 2022 begann, bestand in der Auswanderung von russischen Regimekritiker:innen und Gegner:innen der russischen militärischen Aggression. Dieser drastische Anstieg politisch motivierter Emigration ist Teil eines breiteren und schon länger bestehenden Phänomens, bei dem demokratisch orientierte Russ:innen vor der Wahl standen und stehen, Russland zu verlassen oder die Konsequenzen für ihre politische Haltung zu tragen. Die Reaktion von Putins Regime auf die Massenproteste gegen die gefälschten Wahlen von 2011 und 2012 hat zu einer Spirale der Repression gegen Andersdenkende und zu einer zunehmenden Welle politisch motivierter Migration aus Russland geführt. Diese Migrationswelle umfasst eine ganze Reihe von Personengruppen: Journalist:innen, politische und gesellschaftliche Aktivist:innen, Angehörige ethnischer, sexueller oder religiöser Minderheiten, Regimekritiker:innen und selbst jene, die nur einmalig an öffentlichen Massenprotesten teilgenommen hatten. Sie wollen einfach einer Drangsalierung durch die Behörden oder einer Inhaftierung entrinnen. Die Inhaftierung von Alexej Nawalnyj 2019 und die anschließende Verfolgung der Aktivist:innen von Nawalnyjs Antikorruptionsstiftung löste einen weiteren sprunghaften Anstieg der politisch motivierten Emigration aus, welcher nun die jüngste Auswanderungswelle von russischen Kriegsgegner:innen folgt. Was die Angehörigen dieser jüngsten Runde politischer Emigration vereint, die von vielen Wissenschaftler:innen als »fünfte Welle« bezeichnet wird, ist die Opposition gegen die Vergehen des Regimes im Kreml, die Angst vor Verfolgung und das Gefühl, dass man in Russland nichts tun könne. Generell ist zwar anzunehmen, dass die Abwanderung aktiver, demokratisch gesonnener Bürger:innen zu einer weiteren Zementierung des autoritären Regimes beiträgt. Dennoch belegt die Erfahrung vieler, die Russland verlassen haben, das Gegenteil. Die Forschung zeigt, dass trotz Emigration viele russische Migrant:innen in der Lage sind, über Grenzen hinweg prodemokratische zivilgesellschaftliche oder politische Aktivitäten fortzuführen oder anzustoßen.
Es ist zwar nahezu unmöglich, eine zuverlässige quantitative Analyse zu den russischen Migrant:innen in der EU oder gar zum demokratisch eingestellten Teil von ihnen anzustellen, weil die verschiedenen Datenquellen nicht ausreichend oder widersprüchlich sind. Allerdings gibt uns eine qualitative Analyse des Verlaufs, der Mechanismen und der Bandbreite der politischen Einstellungen sowie der damit verbundenen Verhaltensmuster eine Vorstellung von der jüngsten politisch motivierten Emigration aus Russland an die Hand. Die Gemeinschaft der russischen Migrant:innen in den Mitgliedstaaten der EU ist in vielerlei Hinsicht divers, auch in Bezug auf die politische Orientierung. Dort leben dissidentische Migrant:innen aus Russland neben kremltreuen und jenen, die anscheinend apolitisch sind. Letzteres wird allerdings in dem aktuellen polarisierten Kontext zunehmend schwierig. Diese Analyse konzentriert sich vor allem auf das zivilgesellschaftliche und politische Engagement als Reaktion auf den Krieg der Russischen Föderation gegen die Ukraine; den Kontext bilden hierbei prodemokratische Aktivitäten der russischen Migrant:innen im vergangenen Jahrzehnt.
Prodemokratische Aktivitäten russischer Migrant:innen in der EU
Die relative Sicherheit, die die EU bietet, der Zugang zu europäischen Eliten und der öffentlichen Meinung dort sowie das Fehlen von Geldquellen in Russland hat viele russische Migrant:innen dazu gebracht, sich in unterschiedlicher Form gegen das Putin-Regime und für Demokratie zu engagieren. Die genaue Anzahl demokratisch orientierter russischer Migrant:innen im Allgemeinen oder jener, die sich aktiv für Demokratie und gegen das Regime engagiert haben, ist nur schwer abzuschätzen. Bis 2019 sind in den EU-Staaten nicht weniger als 20 NGOs und 30 Medien von demokratisch eingestellten Russ:innen gegründet worden. Als Reaktion auf den Krieg von 2022 sind neue Initiativen aus dem Boden geschossen. Darüber hinaus haben es einige russische prodemokratische Aktivist:innen geschafft, ihre Organisationen, deren Filialen oder ihre Medien, an neue Standorte zu verlegen. Andere wiederum haben ihr prodemokratisches Engagement für Russland fortgeführt und sich dazu europäischen Organisationen oder Institutionen angeschlossen. In einigen Fällen ist es ihnen gelungen, für in Russland ansässige Institutionen weiterzuarbeiten. Noch andere haben sich für ein individuelles Engagement entschieden, etwa für eine Teilnahme an Protesten, für Spenden, das Führen von Blogs usw. Bald nach der Emigrationswelle, die 2012 einsetzte, hat sich bei russischen migrantischen Aktivist:innen die Vorstellung verbreitet, dass »Emigration nicht verantwortungslos sein muss«. Dabei geht es um die Überzeugung, dass emigrierte Aktivist:innen die Pflicht haben, sich im Ausland gegen das Regime im Kreml zu engagieren und ihre Solidarität mit der russischen Zivilgesellschaft und der ukrainischen Gesellschaft zu zeigen. Zu den thematischen Bereichen des prodemokratischen Engagements russischer Migrant:innen in der EU gehören: freie und faire Wahlen, Menschenrechte und bürgerliche Freiheiten, Korruptionsbekämpfung, Umweltschutz und das Vorgehen gegen russische staatliche Propaganda. Seit der Annexion der Krim 2014 und Russlands Krieg im Donbas sowie seit dem aktuellen Krieg Russlands gegen die Ukraine gehört hierzu auch das Engagement gegen Krieg. Dieser Beitrag konzentriert sich auf letzteres.
Der jüngste Akt russischer militärischer Aggression gegen die Ukraine, der am 24. Februar 2022 begann, ist in der EU und weltweit zu einem wichtigen Katalysator für die Mobilisierung demokratisch gesonnener Russ:innen geworden. Neben dem starken Solidaritätsgefühl für die Ukraine und deren Bevölkerung gerät dies fast zu einer Art Selbsttherapie, um das Gefühl der Schuld und der Hilflosigkeit zu verarbeiten.
Russ:innen in Europa gegen den Krieg: drei Dimensionen des Engagements
Die verschiedenen Aktivitäten von russischen Migrant:innen gegen den Krieg können insgesamt in drei Dimensionen unterteilt werden: eine symbolische, eine materielle (finanziell wie nicht finanziell) und eine informationelle. Zur symbolischen Dimension gehören konkrete Schritte, die eine intensive Opposition zum Vorgehen ihres Heimatlandes demonstrieren sollen, insbesondere Protestmärsche und andere öffentliche Veranstaltungen. Die Botschaften auf den Plakaten und Bannern, die russische Migrant:innen durch europäische Städte trugen, lauteten beispielsweise: »Ich bin Russe und gegen den Krieg!«, »Putin ist nicht Russland«, »Stoppt Putins Krieg« oder »Ukraine, vergib uns!«.
Die Urheber:innen des neuen Symbols eines zukünftigen demokratischen und friedlichen Russlands, der weiß-blau-weißen Flagge, sind nur schwer zu identifizieren. Es gibt eine Reihe von im Ausland lebenden Russ:innen, die mit dieser Idee und ihrer Verbreitung in Verbindung gebracht werden, insbesondere die in Berlin lebende Designerin Kai Katonina. Auf jeden Fall ist die weiß-blau-weiße Flagge bereits dermaßen zu einem wichtigen international erkennbaren Symbol für russische Migrant:innen geworden, die sich gegen den Krieg wenden, dass sie von den russischen Behörden als extremistisches Symbol verboten wurde. Die Idee dahinter ist, dass die ursprüngliche weiß-blau-rote Trikolore der Russischen Föderation als Symbol für Blutvergießen, Unterdrückung und Totalitarismus moralisch unwiederbringlich kompromittiert ist. Durch die Entfernung des Blutroten distanziert sich der prodemokratische Teil der russischen Gesellschaft symbolisch vom blutrünstigen Regime in Russland und kann sich unter einem neuen, positiven Symbol zusammenschließen.
Die sozialen Medien stellen ebenfalls eine wichtige Bühne für russische Migrant:innen dar, um ihre Opposition zu Russlands Krieg zum Ausdruck zu bringen. Dort können sie Antikriegsgruppen beitreten, Profilfotos mit der ukrainischen Flagge unterlegen, Antikriegs-Posts schreiben sowie Memes teilen und sich an Online-Diskussionen beteiligen. Die sozialen Medien bieten die Möglichkeiten zur grenzüberschreitenden Mobilisierung und zur Zusammenarbeit von prodemokratischen und gegen den Krieg eingestellten Russ:innen. So fanden beispielsweise vom 7. bis 10. April 2022 in über 20 europäischen Städten koordinierte Antikriegs-Aktionen statt, die von Initiativgruppen russischer Migrant:innen organisiert und durchgeführt wurden.
Die zweite Dimension ist die materielle (und somit ganz praktische). Hierzu gehört sowohl finanzielle und andere materielle Hilfe wie auch freiwillige Unterstützung an den Grenzübergängen, Flüchtlingsaufnahmezentren und anderen staatlichen oder kommunalen Institutionen, die für die Unterbringung und Unterstützung Geflüchteter zuständig sind. Russische Migrant:innen sind aktiv gewesen, um Geld zu sammeln und humanitäre Hilfe für die Ukraine zu organisieren, die versucht, die russische Invasion abzuwehren. Sie helfen ukrainischen Fliehenden, aus den kriegsgeplagten Städten herauszukommen, organisieren Hilfe an der Grenze und nehmen ukrainische Flüchtlingsfamilien bei sich auf. Einige russische Migrant:innen mit der entsprechenden beruflichen Qualifikation geben ukrainischen Geflüchteten kostenlose psychologische, medizinische und rechtliche Hilfe oder Unterstützung als Dolmetscher:in oder Übersetzer:in. Zu den Akteur:innen gehören bereits etablierte Organisationen wie auch ad hoc gestartete informelle Initiativen und einzelne Freiwillige, beispielsweise »Russ:innen für die Ukraine« (Warschau). Ein weiteres Beispiel materieller Hilfe, das zudem eine symbolische Dimension hat, sind Stipendien für ukrainische Studierende. Zu nennen sind hier die Boris-Nemzow-Stiftung (Bonn), die Zimin-Stiftung und die Kunstfakultät der Karls-Universität, die fünf zweijährige Stipendien für junge Ukrainerinnen anboten, die sich aktuell in keinem Universitätsprogramm befanden.
Neben der Hilfe für Geflüchtete aus der Ukraine und für die militärischen Verteidigungsanstrengungen der Ukraine bieten russische prodemokratische Migrant:innen Hilfe für Russ:innen, die gezwungen sind, ihr Land wegen ihrer politischen Einstellung, ihrer Haltung gegen den Krieg oder ihrer beruflichen oder zivilgesellschaftlichen Betätigung zu verlassen. Hierzu gehört die Unterstützung bei der Ausreise aus Russland, der Legalisierung des Aufenthalts im Ankunftsland und bei der Ansiedlung in einem neuen Staat. Von Bedeutung sind auch Strukturen und Netzwerke zur Mobilisierung nach der Ankunft in der relativen Sicherheit der EU oder in anderen Staaten wie etwa Georgien.
Die Dimension im Bereich der Informationsverbreitung und Kommunikation umfasst die Aktivitäten russischer Journalist:innen, Kommentator:innen und Wissenschaftler:innen, die Russland verlassen haben. Diese Dimension zielt darauf ab, das russische Publikum über die Entwicklungen im Krieg, die tatsächliche Rolle der Russischen Föderation, die militärischen Aktivitäten und über Kriegsverbrechen zu informieren, um der russischen staatlichen Propaganda und Desinformation entgegenzuwirken. Auch soll die ukrainische und europäische Öffentlichkeit darüber informiert werden, dass die russische Gesellschaft hinsichtlich einer Unterstützung für den Krieg keineswegs einhellig ist. Eine dieser emigrierten Journalist:innen, die in Warschau ansässige Oxana Baulina, hat für ihre Arbeit mit dem Leben bezahlen müssen. Sie wurde durch eine russische Rakete getötet, als sie für den Insider an einem Bericht aus einem zuvor bombardierten Kyjiwer Stadtteil arbeitete. Der Insider ist eine 2013 gegründete unabhängige Online-Zeitung, die auf investigativen Journalismus, Faktenchecks und politische Analyse spezialisiert ist. Ein weiteres Beispiel für informationelle Aktivität und investigativen Journalismus ist das Projekt Scanner, dessen Aktivist:innen (von denen viele in der EU ansässig sind) die Ergebnisse ihrer Recherchen veröffentlichen, bei denen es um grenzüberschreitende Korruption (u. a. im Zusammenhang mit der Finanzierung des Krieges) geht.
Ist dieses Engagement relevant?
Warum nun sind diese Aktivitäten wichtig, wo sie doch nur von einer Handvoll russischer Migrant:innen unternommen werden, während gleichzeitig russische Migrant:innen entweder passiv sind oder den Krieg gar offen unterstützen? Einer der Gründe ist darin zu sehen, dass dies letztendlich zum Sturz des autokratischen Regimes in Russland beitragen könnte. Ein weiterer Grund ist, dass damit einem nationalistischen, xenophoben und militaristischen Engagement der russischen Diaspora entgegengewirkt wird, insbesondere in bestimmten EU-Staaten wie Deutschland und Lettland. Zudem bilden diese Aktivitäten das Rückgrat einer eventuellen zukünftigen Annäherung zwischen der ukrainischen, der europäischen und der russischen Gesellschaft. Russische Migrant:innen agieren nicht in einem Vakuum, sondern kooperieren mit europäischen und ukrainischen Freiwilligen, Organisationen und Medien. Während man in Russland mit einem Antikriegs-Engagement seine Freiheit oder gar sein Leben riskiert, ist es in der relativen Sicherheit von Resident:innen in EU-Mitgliedstaaten leichter, Putins Regime zu kritisieren und dessen Opfer zu unterstützen. Zudem ist es für die demokratischen Gesellschaften der EU-Staaten von sehr großer Bedeutung, dass dort die Stimmen von Migrant:innen präsent sind.
Übersetzung aus dem Englischen: Hartmut Schröder